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Glossar

Narrativ

von lateinisch narrare „erzählen“
Als Narrativ wird in den Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren eine sinnstiftende Erzählung bezeichnet, die die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen.

Narrative transportieren historisch spezifische Werte und Emotionen und beziehen sich dabei auf bestimmte kulturelle Denk- und Wissensformen. Narrative sind demnach keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen mit Wahrheits- und Legitimitätsanspruch.

Durch direktes und indirektes Aufgreifen in den Medien können sie fast alle gesellschaftlichen Schichten und Bereiche erreichen. Die dominante Kultur in einer Gesellschaft bringt entsprechende dominante Narrative hervor. Diese basieren auf dominanten Normen und somit auch Unterdrückungsverhältnissen, welche sie dann (re)produzieren. Die Irritation dominanter Narrative stellt daher einen zentralen Bestandteil des Aktivismus, Widerstands und Empowerments marginalisierter Bevölkerungsgruppen und Minderheiten dar. Dazu gehört auch, jenen Erzählungen und Personen Raum zu geben, die von dominanten Narrativen ausgeschlossen und unsichtbar gemacht werden (sogenannte Gegen-Narrative).


Ein Beispiel für die Infragestellung eines dominanten Narrativ ist die Geschichte von Matoaka (vermutlich eher bekannt als: „Pocahontas“) im Gebiet des heutigen Nordamerikas. Aus weißer europäisch-geprägter Sicht erzählt die Geschichte von „Pocahontas“ die angeblich friedliche „Besiedlung“ von den Gebieten der Powhatan durch europäische Siedler. Die Geschichte fokussiert und verdreht spezifische Elemente um die rassistische, koloniale und sexistische Gewaltakte zu verschleiern und somit auch einen sogenannten „Wohlfühlmythos“ für weiße Menschen zu kreieren. Beispielsweise ist die Heirat John Rolfes‘ mit Matoaka keine Liebesehe, sondern ein sehr kalkuliertes, strategisches Handeln, um Kontrolle über die, traditionell matriarchal und Native vererbten, Landrechte von Matoaka zu erlangen.

Gegen-Narrative sind also auch deshalb so wichtig, weil sie nicht nur marginalisierte bzw. unterdrückte Erzählungen re_zentrieren, sondern auch, weil andernfalls buchstäblich ein Teil der Geschichte fehlt. Hierdurch kann dann eine Umschreibung von Geschichte stattfinden, welche weitergetragen und in ein Narrativ der allgemeingültigen „Wahrheit“ verfestigt wird. Schlussendlich werden dann durch weiße Dominanz in der globalen Geschichtserzählung vorsätzlich Gegen- oder auch Ursprungs-Narrative ausgelöscht, sodass die weiße Dominanzherrschaft nicht in Frage gestellt kann.