Das Vermächtnis von May Ayim



May Ayim hinter­lässt ein viel­schich­ti­ges Ver­mächt­nis. Ihre Lyrik, wissen­schaft­lichen Arbei­ten und poli­t­ischen Auf­sätze mögen sich in Sprache und Form unter­schei­den. Sie sind jedoch von einem Geist ge­tra­gen, der in ihrem Ge­dicht „liebe“ auf be­son­dere Weise zum Aus­druck kommt: „geben / ohne zu verlangen / nehmen / ohne zu besitzen / teilen / ohne warum / stark werden / für / die freiheit“.

Die Ge­dich­te May Ayims han­deln nicht immer von Rassis­mus. Weit öfter ver­arbei­ten sie all­täg­liche Augen­blicke und Be­geg­nun­gen, geben Aus­kunft über per­sön­liche Such­bewe­gungen und er­zeu­gen feine Stim­mungs­bilder. Dass sie viele Menschen über­all auf der Welt er­rei­chen, liegt nicht nur an den Themen, son­dern auch an der Art, wie May Ayim diese zum Aus­druck bringt. Bei Auf­trit­ten spricht sie frei, ihre Lesun­gen sind Per­for­man­ces. Sie be­zeich­net ihre Form des Vor­tra­gens als „münd­liche Poesie“.

Als Wissen­schaft­le­rin lehrt May Ayim im In- und Aus­land. Sie hält Vor­trä­ge und forscht zu den Über­schnei­dun­gen von Rassis­mus und Sexis­mus in ver­schie­de­nen ge­sell­schaft­lichen Be­rei­chen. Viele ihrer Denk­ansätze sind von Schwarzen Wissen­schaft­ler*in­nen und Wissen­schaft­ler*innen of Color auf­ge­grif­fen und weiter­geführt wor­den. 

Bis kurz vor ihrem Tod arbei­tet May Ayim als Studien­bera­te­rin und Dozen­tin an der Alice Salo­mon Hoch­schule Berlin. Ihr beson­de­res Inte­res­se gilt Studie­ren­den of Color, die sie zu ihrem Be­fin­den, ihren Er­fah­run­gen und Vor­stel­lun­gen be­fragt. Von den Leh­ren­den will sie wis­sen, ob sie Rassis­mus­er­fah­run­gen ihrer Studie­ren­den ernst neh­men und euro­zen­tri­sche Per­spek­ti­ven in der Lehre ver­mei­den bzw. kri­tisch re­flek­tie­ren.

Kri­ti­sche Selbst­refle­xion fordert May Ayim bereits Mitte der 1980er Jahre auch in poli­ti­schen, ins­beson­dere in femi­nisti­schen Zu­sam­men­hängen ein, denn in der weißen deutschen Frauen­bewe­gung sind Schwarze deutsche und andere mar­gi­na­li­sier­te Frauen mit ihren An­lie­gen nicht ver­tre­ten. Ab 1990 engagiert sie sich, ge­mein­sam mit mehreren hundert Schwarzen, jüdi­schen, ein­ge­wan­der­ten und im Exil leben­den Frauen in ver­schie­de­nen femi­nisti­schen Be­we­gun­gen Berlins.

May Ayim erarbei­tet sich im Laufe ihres Lebens viele Zu­ge­hörig­keiten und Be­zugs­punkte, ist in ver­schie­de­nen Commu­ni­ties auf unter­schied­liche Weise zu­hau­se. Für ihre Per­son und ihr Ver­mächt­nis mag daher das gelten, was sie in „soul sister“, einem lyri­schen Nach­ruf auf ihre Gefähr­tin, Men­to­rin und Freun­din Audre Lorde, zum Aus­druck bringt: „erinnerungsmomente und gedächtnislücken / bleiben / lebendig beweglich / uns überlassen“.

Ausstellung an der Alice Salomon Hochschule Berlin, 1997