Die Bürgerrechtsbewegung von Sinte*zza und Rrom*nja

Geschichte*n und Wegmarken der politischen Selbstorganisation 

Hungerstreik im ehemaligen KZ Dachau, Ostern 1980

Das Ende der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur im Mai 1945 lässt im Nach­­kriegs­­deutsch­­land den Mythos der „Stun­de Null“ ent­stehen. Was all­ge­mein gern als „Neu­­an­fang“ ver­bucht wird, be­deu­tet für Rrom*nja und Sinte*zza die naht­lo­se Fort­­set­­zung von Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung. In Bayern tritt 1953 mit der „Land­­fah­­rer­­­ord­nung“ er­neut eine ras­sis­ti­sche Son­der­ge­setz­ge­bung in Kraft. Für die po­li­­zei­­dienst­­l­iche Er­fas­sung der Über­le­ben­den des Pharraj­mos nut­zen die Be­hör­den un­­ge­­niert NS-Akten wei­ter.

Bis in die 1980er Jahre sind Sinte*zza und Rrom*nja mit einer Mehr­­heits­­ge­sell­­schaft kon­fron­tiert, die den Völker­mord nicht nur ver­leug­net, son­dern auch kaum ein Un­rechts­ver­ständ­nis ent­wickelt. Im Gegen­teil: Der bun­des­deut­sche Staat be­­schäf­­tigt vie­le Täte­r*in­nen wei­ter, die be­reits in den je­wei­li­gen NS-Be­hör­den ak­tiv an der Ver­fol­gung der Min­der­heit be­tei­ligt ge­we­sen sind. Eini­ge ent­schei­den als „Ex­­pert*­in­nen“ so­gar über Ent­­schä­­di­­gungs­an­trä­ge und Wie­­der­­gut­­ma­chungs­­ver­­fah­ren. Die­se er­neu­te Ent­rech­tung und De­mü­ti­gung gilt als „zwei­te Ver­fol­gung“.

Die Über­le­ben­den und ihre Fa­mi­lien sind mit den Nach­wir­kun­gen der NS-Ver­fol­gung allein ge­las­sen; die be­grün­de­te Angst vor staat­li­cher Ge­walt sitzt tief. Ob­wohl es un­ter die­sen Be­din­gun­gen über­aus schwer ist, sich poli­tisch zu or­ga­ni­sie­ren, er­­starkt in den 1970er Jahren bun­des­weit eine Bür­ger­rechts­be­we­gung. Sie for­dert die An­er­ken­nung des Völker­mords und das Recht auf Ent­schä­di­gung, be­treibt eine ge­ziel­te Öffent­lich­keits- und Ver­netzungs­arbeit, the­ma­ti­siert die ras­sis­ti­sche Praxis von Poli­zei und Justiz und macht mit spek­ta­ku­lä­ren Wider­stands­aktio­nen auf die Si­tua­­ti­on von Sinte*zza und Rrom*nja auf­merk­sam.

1980 treten Bürger­recht­ler*in­nen im ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­tions­lager Da­chau in den Hun­ger­streik, um ge­gen die Weiter­füh­rung der ras­sis­ti­schen Son­der­er­fas­sung durch das baye­ri­sche Lan­des­kri­mi­nal­amt zu pro­tes­tie­ren. Der Wider­stand ist er­folg­reich. Im Sep­tem­ber 1981 be­set­zen Akti­vist*in­nen das Uni­ver­si­täts­ar­chiv in Tübin­gen. Sie er­zwin­gen die Heraus­gabe der Unter­la­gen der Rassen­hygie­ni­schen For­schungsstel­le.

Die ers­ten Bür­ger­recht­le­r*in­nen wid­men sich nicht nur kon­se­quent der Er­in­ne­rungs- und Ge­denk­poli­tik . Sie sind auch ak­tiv am Auf­bau von lan­des- und bun­des­wei­ten Ver­bands­struk­tu­ren be­tei­ligt. Wich­ti­ge Mei­len­stei­ne sind die Ein­rich­tung eines Do­ku­men­ta­tions- und Kul­tur­zen­trums, die Rea­li­sie­rung eines zen­tra­len Mahn­mals, die Sicht­bar­ma­chung von Er­in­ne­rung in Stadt­räu­men so­wie Aus­stel­lun­gen, Buch­ver­öffent­li­chun­gen und eine viel­sei­ti­ge Bil­dungs­arbeit. Über diese Ge­schich­te*n er­zäh­len die Akti­vist*in­nen Anita Awosusi und Ilona Lagrene in den nach­fol­gen­den Inter­view-Aus­schnit­ten. Sie zeich­nen ein Bild des poli­ti­schen Wider­stan­des nach, das nach wie vor In­spi­ra­tion ist.