Bewegungsgeschichte*n – Dokumentation, Archivierung und Weitergabe
Ein Gespräch mit Katja Kinder und Saraya Gomis.
Katja Kinder: Eine Formulierung wie »Passing it On« lässt mich darüber nachdenken, wie die Weitergabe von kritischem Wissen möglich wird und welche Räume dafür benötigt werden. Es bedeutet für mich auch, darauf zu fokussieren, welche reflektierten Normen wir brauchen, um reflektierte Wissensbestände zugänglich zu machen. Für mich ist das ein Lebendig-Halten von Community-Wissen, das aus Theoriearbeit, Reflexionsarbeit und Beziehungsarbeit besteht. Aus diesen drei Wissensbeständen generieren wir ein Befreiungs- oder Empowerment-Wissen, das uns andere Handlungsorientierungen anbietet bzw. auf andere Handlungsoptionen hoffen lässt.
Saraya Gomis: Ich denke daran, wie bestimmte Gespräche im Familienkontext stattgefunden und mir das Gefühl gegeben haben, Geschenke in Form von Wissen, Erfahrungen und Geschichten weitergegeben zu bekommen. Geschenke, die gar nicht so explizit waren, aber mit denen ich dann wieder was machen konnte, die Raum gelassen haben, sodass ich noch etwas hinzufügen konnte oder gemeinsam im Gespräch mit anderen wieder etwas hinzugefügt wurde.
Ein zweiter Gedanke war, dass ich mich freuen würde, wenn langjährige und erfahrene Community-Organisationen wie ADEFRA die vorhandenen Geschichten aufschreiben würde. Während der gemeinsamen Arbeit fällt mir oft auf, wie wenig ich darüber weiß, was passiert ist. Insbesondere mit dem Fokus auf Deutschland ist es wichtig zu sagen, dass wir hier nicht alle permanent sozialisiert worden sind und deshalb weitere (Wissens-)Lücken entstehen. Das wiederum führt innerhalb von Community-Arbeit zu Auseinandersetzungen, weil nicht honoriert bzw. kein Bezug darauf genommen werden kann, was andere Menschen bisher erlebt, was sie sich erarbeitet und welche Kämpfe sie geführt haben. Wenn wir das noch erweitern um die vielen Identitäten, die wir in uns tragen, um die Schnittmengen mit anderen Communitys, dann sehen wir, dass das Feld immer größer wird.
Katja Kinder: Menschen befinden sich immer auf unterschiedlichen Wissensebenen. Wenn ich meinen Fokus auf Community-Räume richte, dann ist es wichtig, herrschaftsförmigem Wissen zu widerstehen. Das ist nicht einfach – sogar dann nicht, wenn kritisches Wissen vorhanden ist. Für mich ist deshalb die zentrale Frage, ob wir unser Tun nach diesem kritischen Wissen richten.
Herrschaftsförmiges Wissen positioniert uns in einem Raum ohne Empathie. Deshalb ist es enorm wichtig, Empathie in Wissensräume zu bringen. Das erlaubt es mir, mit anderen Menschen in Kommunikation zu treten, weil ich bereit bin, ihnen nahe zu sein. Ein solches ›Sehr-nah-dran-Sein‹ provoziert, dass ich über meine eigenen Prozesse spreche, sie offenlege. Widerständiges Wissen ist auf Empathie angewiesen. bell hooks nennt das »ehrliche Kommunikation« – und ehrliche Kommunikation ist basiert in aktivistischer Arbeit und in Community-Arbeit.
Ich komme aus einer Schwarzen queer*feministischen Bewegung, in der uns – wenn wir community-übergreifendes reflektiertes Wissen teilen – viele Fragen umtreiben: Wie schaffen wir es, gender-nonkonforme Anliegen und Strategien in Community-Räume zu bringen, die total heteronormativ sind? Wie schaffen wir es, über Black Love zu sprechen in Bezügen, in denen viele BPoC eher mit weißen Personen Beziehungen führen? Wie können wir konstruktiv an gemeinsamen Zielen arbeiten trotz und mit unserer wahnsinnig unterschiedlichen Positionierungen? Wenn ich in solchen Prozessen an die Grenzen von Wissensvermittlung stoße, ist das für mich ein Zeichen dafür, dass ich eine Lernschleife einlegen muss. Denn eine solche Grenze gibt es ja nicht wirklich. Sie liegt in mir.
Saraya Gomis: Ich finde das Thema der Grenzen sehr wichtig – als Lernende und als Lehrende. Dahin zu kommen, dass wir erst unseren Habitus hinterfragen, bevor wir ›Andere‹ abwerten, fände ich schön. Ein zweiter Gedanke hat etwas mit der Vereinnahmung von BPoC-Wissen zu tun, das im Mainstream sichtbar wird. Oder, um es mit Maisha Auma zu sagen: dem Dreiklang Diversität – Differenz – Dominanz. Letztere wird einfach ausradiert, und wir bleiben beim ›bunt‹. Selbst wenn ich in meinem Arbeitsfeld immer wieder gesagt habe, dass das zusammengehört, dass es ein Dreiklang ist, bleibt das auf der Ebene der Analyse. Diese ist unglaublich hilfreich und schafft einen Mindeststandard der Verhandlung. Aber gleichzeitig nimmt sie etwas weg, das aus den Communitys und der aktivistischen Arbeit kommt und das nicht einfach nur eine Analyse ist, sondern auch, wie wir miteinander leben.
Eine Frage ist: Wie schützen wir unser Wissen und was bedeutet es – oder ist es überhaupt wichtig – dass es in den Mainstream gelangt? Wie können wir es hinkriegen, unsere Wahrnehmung zu schärfen und aufzupassen, dass wir nicht ›abgleiten‹; dass wir unsere Veränderungen immer wieder in den Blick nehmen, an unseren Missionen und Visionen arbeiten, aber auch Dinge transparent machen, die schief laufen?
Katja Kinder: Mit uns selbst, aber auch mit anderen rassismuserfahrenen Communitys in Verhandlung zu gehen, bedeutet, sich zu positionieren. Sich zu fragen: Was ist uns eigentlich wichtig? Was ist eigentlich ein Schwarzer queer*feministischer Standpunkt? – und das immer wieder konsequent auszuformulieren.
Eine zweiter Punkt ist, sich gewahr zu sein, dass es innerhalb und zwischen unterschiedlichen Communitys – wenn wir zusammenkommen – immer marginale Positionen gibt und dass diese marginalen Positionen häufig marginal bleiben. Die Verhandlungsebene zeigt sich letztlich darin, wenn ich mich positioniere, dass meine Position Ausgangspunkt meines Denkens und meines Handelns ist, und dass dieses Denken und Handeln – das, was mich ausmacht als Community – sich wiederspiegeln muss in allen Inhalten und in allen Personengruppen.
Protokoll: Nicola Lauré al-Samarai