Haus Vaterland – Betrieb Kempinski:
Zwischen Mythos und Geschichte, zwischen Vielfalt und Verfolgung
„Im Haus Vaterland ißt man gründlich, hier gewittert’s stündlich!“ So lautet der Werbeslogan für eine der spektakulärsten Attraktionen Berlins. Und das ist wörtlich gemeint. Der 1928 eröffnete Gaststättengroßkomplex – heute gern als „Mutter der Erlebnisgastronomie“ bezeichnet – beherbergt nicht nur ein Dutzend verschiedener Themenrestaurants. Er bietet auch ein einmaliges technisches Highlight: In einer nachgebauten Rheintallandschaft geht jede Stunde ein simulierter Wolkenbruch mit Blitz und Donner auf die Gäste nieder. Die Besucherzahl bricht alle Rekorde. Jährlich kommen eine Million Menschen, um sich zu amüsieren.
Das Haus Vaterland steht für den Mythos der „Goldenen Zwanziger“, für Großstadt, Glamour und Weltoffenheit. Doch dieser Mythos ist trügerisch. Die Großstadt befindet sich in einer Rezession. Den Glamour können sich die Wenigsten leisten. Und Weltoffenheit dient höchstens als werbewirksame Fassade für die Tourismus- und Unterhaltungsbranche. Tatsächlich ist im Deutschland der 1920er Jahre keineswegs jede*r willkommen. Marginalisierte Menschen haben auf dem umkämpften Arbeitsmarkt kaum eine Chance und müssen ihren Lebensunterhalt in unsicheren und äußerst fragwürdigen Nischenbereichen verdienen.
Und doch: Trotz Weltwirtschaftskrise, Notverordnungen und finanzieller Probleme wird das Haus Vaterland für einige wenige Jahre zu einem Ort der Vielfalt. Die Geschäftsführung obliegt dem jüdisch-deutschen Traditionsunternehmen der Familie Kempinski. In den Themenrestaurants arbeiten Berliner*innen afrikanischer und arabischer Herkunft, wie z.B. Mohamed Husen. Es treten bekannte Schwarze Künstler*innen auf, unter ihnen Sidney Bechet, Hester Harvey, Willy Allen oder Kwassi Bruce. Einer der Hauskapellmeister ist der jüdisch-österreichische Geiger Ladislaus Löwenthal, eine der Hausbands sind die Sid Kay’s Fellows, eine bekannte Jazzformation mit überwiegend jüdischen Musikern.
Aus den Programmankündigungen des Haus Vaterland, um 1930/31
Dies ändert sich 1933. Während nach außen hin das Unterhaltungskonzept des Haus Vaterland weiterhin aufgeht, wird hinter den Kulissen die nationalsozialistische „Rassen“- und Kulturpolitik konsequent umgesetzt. Jüdische und andere, sogenannte „nichtarische“ Künstler*innen dürfen nicht mehr auftreten. Jüdische Unternehmen werden boykottiert, „arisiert“ oder zerschlagen. 1937 übernimmt die Aschinger AG die Kempinski-Betriebe und damit auch das Haus Vaterland. Bis zu dessen Bombardierung Ende 1943 unterhalten nun „passende“ Künstler*innen ein „arisches“ Publikum.
Die Geschichte des Haus Vaterland erinnert an Begegnung, Vielfalt und Kultur. An Krieg, Verfolgung, Mord und Überleben. Und sie hat zahlreiche Spuren hinterlassen: Spuren, die Aufschluss geben über eine unebene, jedoch zu allen Zeiten vielstimmige Geschichte Berlins.