Die Berliner Afrika-Konferenz als Schlüsselereignis: Eine poetische Erinnerung
Das Selbstbewußtsein des „Kolonisierten“
In Berlin hat man sich im Jahre 1885 unseren Kontinent aufgeteilt. [...]
Man kam, uns zu erziehen.
Man kam, uns zu zivilisieren.
Dieser Vertrag von Berlin hat mich lange gekränkt.
Jedes Mal, wenn ich auf dieses Datum stieß,
Empfand ich dieselbe Verachtung. [...]
Das Schlimmste aber war, dass man mich dieses Datum lehrte.
Ich musste es auswendig lernen.
Eine ganze Unterrichtsstunde lang nannte man uns die
Namen der Vertragspartner von Berlin,
Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten,
Ihr diplomatisches Geschick,
Die Beweggründe, die hinter einem jeden standen.
Vor unseren unbeweglichen Gesichtern breitete man die Folgen aus:
Die Befriedung Afrikas,
Die Wohltaten der Zivilisation in Afrika,
Den Mut der Forscher,
Den selbstlosen Humanismus.
Aber niemand,
Absolut niemand wies hin auf die Beleidigung,
Auf die Schmach, die uns überall begleitete.
Ein Mensch,
Einer, der dir gleich ist,
Mischt sich in deine Angelegenheiten,
Ohne dich zu fragen.
Das ist eine grobe Unhöflichkeit, die jedes empfindsame Herz verwundet. [...]
Michel Kayoya (1934 - 1972)
Verfasser dieses Gedichts ist der katholische Priester Michel Kayoya. Er schreibt 1968 – nur sechs Jahre nach der Unabhängigkeit seines Landes – das Buch „Auf den Spuren meines Vaters. Die Jugend Burundis entdeckt ihre Werte“. Kayoya, 1934 in Kibumbu geboren, gehört zu jener Generation afrikanischer Schriftsteller*innen und Dichter*innen, die unmittelbar nach dem formalen Ende des europäischen Kolonialismus ihre Erfahrungen in Worte fasst. Seine Texte gelten als poetische Zeitzeugnisse und sind in viele Sprachen übersetzt.