Bethlehemkirchplatz

Historische Verstrickungen: Christliche Mission und Kolonialismus

Der Erinnerungsort Bethlehemkirchplatz, 2016

In das Pflaster des Bethle­hem­kirch­platzes ist ein Mosaik ein­ge­las­sen. Da­rüber deutet eine mit Leucht­mit­teln ver­se­he­ne Stahl­kon­struk­tion die Um­ris­se einer Kirche an. Die Kunst­instal­la­tion „Memoria Urbana“ mar­kiert zusam­men mit dem Mosaik den Grund­riss der Beth­le­hems­kirche. Dane­ben be­fin­det sich die Skulp­tur „House­ball“, die als großer, kugel­för­mi­ger, bun­ter Ballen den Haus­stand einer ge­flüch­te­ten Fami­lie sym­bo­li­siert. Mosaik, Licht­instal­la­tion und Skulp­tur er­in­nern an die Beth­le­hems­kirche, die 1737 für pro­testan­tische Glaubens­flücht­linge aus Böh­men er­baut wird.

Der kleine Platz ruft damit gleich drei­fach ein Enga­ge­ment für Glaubens­flücht­linge ins Ge­dächt­nis. Ein ande­rer Bei­trag er­fährt hin­gegen keine Auf­merk­sam­keit. Ob­wohl aus der Beth­lehems­kirche die erste deut­sche Aus­bil­dungs­stätte für Missio­na­re her­vor­geht, wird an die Rolle der christ­li­chen Mis­sion im Kolo­nia­lis­mus an diesem histo­ri­schen Ort nicht er­innert. Eine solche Ge­schichts­ver­ges­sen­heit fällt auf: Immer­hin nimmt die Gossner Mission bereits 1836 – fast fünf­zig Jahre vor Be­ginn der for­ma­len deut­schen Kolo­nial­herr­schaft – ihre Tätig­keit auf.

Die ersten Missio­na­re, die in der Beth­le­hems­kirche aus­ge­bil­det werden, reisen mit Missions­ge­sell­schaf­ten ande­rer Kolo­nial­mächte. Ab 1842 darf das Missions­werk, das zu diesem Zeit­punkt den auf­schluss­reichen Namen Evan­ge­li­scher Missions­verein zur Aus­brei­tung des Christen­tums unter den Ein­ge­bo­re­nen der Heiden­länder trägt, selbst Missio­na­re ent­sen­den. Dass es sich dabei vor allem um Bauern und Hand­wer­ker han­delt, ist kein Zu­fall.

Missio­na­re, Missions­lehrer, -inspek­to­ren und -wissen­schaft­ler inter­pre­tie­ren den Missions­auf­trag ver­schie­den. Sie er­ken­nen das kolo­nia­le Sys­tem als sol­ches aber nicht nur an, sondern ver­han­deln auch über die spe­zi­fi­sche Rolle der Kirche. Mit ihrem Selbst­ver­ständ­nis, die eigene Glaubens­vor­stel­lung sei über­legen und hätte einen allein­gül­ti­gen Gel­tungs­an­spruch, sind christ­liche Missio­nen tief in das Pro­jekt des Kolo­nia­lis­mus ver­strickt. Der An­spruch, Menschen in kolo­ni­sier­ten Ge­bie­ten zum ein­zig „richti­gen“ Glauben zu be­keh­ren und so zu ihrer „geisti­gen Hebung“ bei­zu­tragen, ist eng an die Idee einer „Zivili­sie­rungs­mission“ ge­knüpft. In der Kolo­nial­poli­tik des Deut­schen Kaiser­reichs Ende des 19. Jahr­hun­derts spielt die Er­zie­hung zur Arbeit dabei eine tra­gen­de Rolle.

Schriftzug über dem Portal der Gossner Mission in der Berliner Georgenkirchstraße 70

Die Gossner Mission gibt es noch heute. Sie ist in Indien, Nepal, Sambia und Uganda aktiv. Im Jahr 2009 erscheint an­läss­lich des 150. Todes­tages von Goßner eine Fest­schrift. Den Bei­trägen ist – als offen­bar nach wie vor gülti­ges Motto – ein Zitat des Missions­grün­ders voran­gestellt: „Hören wir auf, Missio­na­re zu sein, so hören wir auf, Christen zu sein“.